Wenn man vom heutigen Tag die eine Stunde Morgenlauf am Strand, den zweistündigen Spaziergang an den Klippen und die drei Stunden „Begrüßungsdinner“ mit Wenche (meinem Guide hier auf Gotland) und Linda (der Marketingmitarbeiterin des gotländischen Sponsors) abzieht, blieben unglaubliche acht Stunden „zur freien Verfügung“.
Ziehen wir davon noch die Zeiten für Infrastrukturdinge (wie Klamotten aus der Hotelwäscherei abholen, Notizen zu den gestrigen Besichtigungen machen, Mails lesen und schreiben, Telefonate führen, Kisten ein wenig umsortieren, Landkarte und Progamm für morgen studieren) sowie für Essen & Trinken und für Körperpflege ab, sind wir bei ca. vier Stunden.
Was für ein Luxus: vier Stunden Ruhe und Muße!
Endlich Zeit, die vielen Eindrücke mal sacken zu lassen und ein bisschen zu verarbeiten, bevor morgen schon die nächsten Exkursionen anstehen.
Wenche hat mir eine Menge vermittelt über Visby, Gotland, die Inselbewohner, die Schweden und ihr Land. Ich greife nun einfach mal ein paar Punkte aus dem großen Topf der Informationen und Eindrücke heraus.
1a) Der Schwede trinkt – im Büro oder daheim – den ganzen Tag über Kaffee. Der freiberufliche Schwede hat immer seine Thermoskanne mit Kaffee bei sich, um auch unterwegs und bei Auswärtsterminen jederzeit eine Fika abhalten zu können. Wenche schleppte zu meinem Erstaunen gestern den ganzen Tag ihre Kanne mit sich herum, letztlich hat sie sie gar nicht gebraucht, weil wir sowieso zweimal zur Fika einkehrten. Dennoch beruhigt es den Schweden, seine Thermoskanne dabeizuhaben.
1b) Der Schwede liebt Süßkram. Zu jedem Kaffee futtert er irgendwas Süßes. Und für Hemmakväll (=gemütlicher Abend daheim) geht er in einen Laden gleichen Namens und kauft dort säckeweise Zuckerzeug ein. Die Hemmakväll-Candy-Stores haben ihr Angebot praktischerweise bereits um einen Filmverleih erweitert, weil man ja irgendwie unterhalten werden muss, während man den großen Sack voller Bonbons, Lakritz und Gummibärchen verzehrt. Und weil der Schwede Süßkram so liebt, ist auch in fast allen Lebensmitteln, die man nicht im Hemmakväll-Laden kaufen kann, Zucker drin. Im Brot, in Semmeln, im Joghurt, im Quark, in den allermeisten Getränken. Es gibt kaum was Pures oder Ungezuckertes (mit Salz verhält es sich übrigens ähnlich und, was das Allerkrasseste ist: der Schwede kombiniert beides sogar, heut Abend im Restaurant durfte ich einen Schokotrüffel kosten, der mit Salz ummantelt war, puh!).
1c) Der Schwede muss für Alkohol teuer bezahlen, in ein gesondertes Geschäft gehen, um ihn zu erwerben und man könnte meinen, dass das ja den Konsum irgendwie einschränkt, wenn die Beschaffungsmöglichkeiten so unkommod sind. Weit gefehlt. Aber das ist eigentlich ein eigenes Thema, merk ich gerade. Also für heute und hier nur so viel: der Gotländer bzw. die Gotländerin ist unerwartet trinkfest und das noch dazu zu äußerst ungewöhnlichen Tageszeiten. Gefühlt braut hier jeder dritte daheim selbst Bier oder Schnaps.
2. Der Schwede ist ein Mehrhundehalter. Wohingegen der Deutsche ja eher zum Einzelhund tendiert. Von der Mehrhundehaltung (zwei bis fünf Hunde sind in Schweden keine Seltenheit, je nach Rasse/Größe eben – und nebenbei erklärt sich so auch der immer noch reißende Absatz, den der Volvo V70 findet, denn der Schwede ist gern und viel mit dem Auto unterwegs, nicht nur zu IKEA und anderen Einkäufen, sondern auch zum Camping und zu Festivitäten und das alles eben auch mit allen Hunden an Bord) verspricht sich der Schwede, dass die Hunde sich untereinander beschäftigen, was größtenteils erwiesener Irrglaube ist, an dem der Schwede aber gern festhalten möchte, weil er a) kein passionierter Gassigeher ist oder b) denkt, dass das ständige Angeleintsein von Hunden durch das Mitführen mehrerer Hunden ausgeglichen werden könnte („wenn sie schon nicht frei laufen dürfen, dann haben sie sich wenigstens untereinander“). Hat der schwedische Mehrhundehalter zu viel Unruhe in seinem Großrudel, sucht er einen Hundeplatz auf (eingezäunt) und lässt seine Hunde dort von der Leine oder nimmt an Aktivitäten seiner örtlichen Hundeschule teil. Immer mehr in Mode kommt auch die morgendliche Abgabe des gesamten Rudels: Um 7 Uhr bringt der berufstätige, schwedische Mehrhundehalter seine 2 bis 5 Hunde zur Hunddagis (Hundekrippe – wir besichtigten gestern eine), wo sie dann mit 50 anderen Hunden in einem eingezäunten Gelände herumstehen oder -laufen oder – wenn sie nicht so sozialverträglich sind – in abgeschlossenen Abteilen herumliegen müssen.
3. Der Gotländer liebt seine Insel und der Tourismus ist seine Haupteinnahmequelle. Der mehr und mehr ausufernde Tourismus spült aber nicht nur Geld nach Gotland, sondern eine Menge Probleme, die die Insel langsam aber sicher ruinieren, was den Gotländer schmerzt, da er seine Insel ja liebt. Diese Probleme beginnen beim Wasser: Damit die Touristen zweimal am Tag duschen können, müssen die Einheimischen Wasser sparen, erhalten in der Hauptsaison Auflagen, nur jeden zweiten Tag zu duschen oder ihre Gärten nicht mehr zu wässern. Es geht weiter bei den Gütern, die per Schiff oder Flugzeug importiert werden müssen, damit neben dem Bedarf der Einheimischen auch die Touristen hier alles vorfinden, was ihr Touristenherz begehrt. Der Fähr- und Flugverkehr hat extrem zugenommen, worunter die Umwelt leidet, ganz zu schweigen vom Müllentsorgungsproblem (Gotland verschifft Großteile seines Müll zurück aufs Festland, wofür wieder Fährverkehr anfällt). Ein Sonderproblem sind die Kreuzfahrtschiffe. Mindestens jeden zweiten Tag während der Saison legen ein bis zwei solcher Mega-Kreuzer hier an, spucken Aberhunderte von Tagestouristen aus, die hier 2 bis 5 Stunden Aufenthalt haben. Wie eine Heuschreckenplage fallen die dann alle zeitgleich in die Altstadt ein, strömen in die Geschäfte, Cafés und Lokale. Es wurden extra mehrere neue Wege angelegt, eigens um diese Besucherströme zu kanalisieren, zugleich wurden auf den Straßen Bodenwellen eingebaut, damit ja kein Gotländer so einen übergewichtigen Ruhrpott-Onkel oder eine geldige Russen-Trulla zusammenfährt, wenn die sich und ihren Zaster mal wieder nicht auf den vorgesehen Wegen Richtung Altstadt schieben, sondern quer über die Straßen tapern. Um all diese Menschenmassen zu bedienen (in den Geschäften, Cafés und Lokalen), braucht man in der Hauptsaison Unmengen an Personal. Das wird größtenteils schlecht bezahlt und nach der Saison in den nächsten schlecht bezahlten Saisonjob anderswohin verabschiedet. So funktioniert das in einer Touristenhochburg. Mit Ende der Hauptsaison (=Ende August / Anfang September) schließen die meisten Geschäfte, Cafés und Lokale. Es lohnt sich dann einfach nicht mehr, auf ein paar Individualreisende zu warten, die vielleicht auch gern mal was essen und trinken möchten, am Ende sogar noch mit ihrem Einzel-Köter im Schlepptau. Der Gotländer, der seine Insel ja eigentlich so liebt, ist mit dem gotländischen Sommer längst in einer Art Hassliebe verbunden. Einerseits ist er auf die Einnahmen durch den Tourismus angewiesen und vergöttert seine so sonnenreichen Inselsommer, andererseits kann er seine wunderschöne Hauptstadt nicht mehr betreten, weil sie aus allen Nähten platzt, geschweige denn genießen (aus den beschriebenen Gründen). Wer auch immer es sich leisten kann (heißt: nicht vom Tourismus leben muss), haut im Sommer ab, irgendwohin aufs Festland, wo er seine Ruhe hat. Weil sich das aber kaum jemand leisten kann, ziehen die jungen Gotländer gleich nach Beendigung der Schule aufs Festland, was nach und nach zu einer Überalterung der Inselbewohner führt, die je älter sie werden auch umso gebrechlicher werden, weshalb sie noch mehr Saisonkräfte vom Festland anheuern müssen. Den durch die Festlandflucht der Jugend frei werdenden Wohnraumkaufen kaufen sich reiche Leute vom Festland, die dann wiederum ausschließlich für ihre Sommerfrische nach Gotland kommen, den Rest des Jahres stehen die Quartiere leer. Visby wirkt bereits Anfang September in den Abendstunden wie ausgestorben. Mich persönlich stört das nicht, ich möchte nicht geschenkt zur Hauptsaison hier sein, aber die Gründe für die geisterstadtähnliche Atmosphäre in manchen Vierteln stören mich sehr wohl. Und zugleich bin ich ein Teil dieser ratternden Maschinerie, denn das größte Tourismusunternehmen Gotlands hat mich zu dieser Reise eingeladen, um Werbung für seine großartige Insel zu machen, um sich neue Touristengruppen zu erschließen (hier: Individualreisende mit Hund), gern auch Kundschaft, die endlich mal in der Nebensaison herkommen möchte, damit hier das ganze Jahr was zu tun und zu verdienen ist.
4. Ab Anfang September sind die ländlichen Gebiete von Gotland (und die machen 90% der Inselfläche aus!) nahezu menschenleer. In Visby ist das tagsüber noch nicht zu spüren, aber auf der restlichen Insel ist alles leergefegt. Für unsere morgige Exkursion in den Norden der Insel (genauer gesagt: auf die vorgelagerte Insel Farö, die sehr berühmt ist, weil Ingmar Bergman wegen des besonderen Lichts, der einzigartigen Natur und der imposanten Raukar dort lebte, etliche seiner Filme drehte und schließlich starb), suchte Wenche die Stecknadeln im Heuhaufen: a) ein Lokal, in dem wir zum Dagens Lunch (wie der Mittagstisch in den Restaurants hier heißt) einkehren können und b) eine Unterkunft, die noch geöffnet hat und mich & das Dackelfräulein für zwei Nächte beherbergen möchte. Lediglich der Besuch einer Gotlandschaf-Farm (ein Wunsch von mir) war einfach zu organisieren, denn die Schafe verschwinden ja nicht mit Saisonende, sondern bleiben ganzjährig auf Gotland. Ich bin froh, dass Wenche hier jeden Stein, jedes Schaf und jeden Einheimischen zu kennen scheint und noch dazu ein Organisationstalent ist. Sie hat ein Lokal gefunden, das erst Ende der Woche seine Pforten schließt, uns also morgen Mittag noch bekochen wird, sie hat über ihre guten Beziehungen einen Hotelchef überreden können, mir für zwei Tage ein Ferienhäuschen zu überlassen (zwar mit dem Zugeständnis, dass es dort kein Frühstück geben wird, weil das Personal schon abgereist ist, aber Wenche wird mir einen Picknickkorb voll Verpflegung mitbringen und vermutlich überlässt sie mir auch ihre gefüllte Thermoskanne) und sie hat mir alles gründlich notiert, was ich mir auf Farö angucken kann, denn sie fährt abends mit dem Bus zurück nach Visby. Ich werde also mit Kaffee, gezuckertem Brot und pappsüßer Marmelade quasi ganz allein auf Farö sein und den Geist Bergmans spuken hören oder sehen.
5. Das ausgestorbene Nachsaison-Gotland gewinnt nicht nur an landschaftlichen Reizen und an rauem Charme, sondern auch an Projektionsflächen für alle möglichen und unmöglichen düsteren Visionen. Die Raukar werfen unheimlichere Schatten auf die Strände als sonst, weil die Sonne tiefer steht. Das Schreien der Küstenvögel schrillt plötzlich wie ein gequälter Hilferuf durch die Dämmerung, das gewöhnliche Blöken der Schafherden klingt wie mystisches Gegrummel von Trollen, und die herbstlichen Winde verteilen all diese Geräusche bis in die letzten Verästelungen jedes Hagebuttenstrauchs und in alle Ritzen des Kalkgesteins, aus dem die gesamte Insel besteht. Die schlichten Steinhäuser, die schmucklosen weißen Kirchen und die uralten Holzkaten werden zu perfekten Drehorten für Schwedenkrimis. Gotland ist extrem beliebt bei Filmteams, speziell, was Psychothriller und Krimiserien angeht. Kein Wunder.
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Belassen wir es für heute mal bei diesen fünf Punkten. Wenn es auf Farö ein Off-Season-WLAN geben sollte oder überhaupt irgendeine Art Netzzugang, dann hören Sie von dort aus wieder von uns.
So ein paar Impressionen von den besonderen Raukar auf Farö, dem nördlichsten Leuchtturm Gotlands und den blökenden, graufelligen Genossen würde ich schon gern mit Ihnen teilen, wenn ich abends mit Wenches Thermoskanne, meinem Weißbier und dem Fräulein auf dem Schoß in eine Schafwolldecke gehüllt im Schein eines flackernden Windlichts auf der ansonsten stockdunklen Veranda des einsamen Häuschens sitze.
Bis dahin & gute Nacht zusammen!